Der unbekannte Beethoven
Genial und griesgrämig, merkwürdig und nicht ganz von dieser Welt ist Beethoven in unserer Vorstellung. Vor allem aber: alt und taub. Dabei ist Ludwig van Beethoven gar nicht alt geworden – und als er mit 56 Jahren starb, war er auch „erst“ seit knapp zehn Jahren vollständig taub. Trotzdem ist es dieser „alte“ Beethoven, der unser Bild bestimmt. Ein Mann, der von der Polizei als Landstreicher festgenommen worden sein soll, der abwechselnd summend und brüllend durch Wien lief. Ein einsamer, durch seine zahlreichen ebenso unglücklichen wie aussichtslosen Schwärmereien für unerreichbare Frauen verbitterter Misanthrop. Ein Mann, den sein Freund und Biograph Schindler so beschreibt: „Sein Kopf ungewöhnlich groß, mit langem, struppigem, fast ganz grauem Haare bewachsen, das nicht selten vernachlässigt um seinen Kopf hing, und ihm ein etwas verwildertes Aussehen gab“.
Doch da ist noch ein anderer Mann. Der, von dem Grillparzer berichtet: „Er war damals noch mager, schwarz, und war, gegen seine spätere Gewohnheit, höchst elegant gekleidet.“ Ein Mann, der großen Erfolg hatte bei den Frauen. „In Wien war Beethoven, wenigstens solange ich da lebte, immer in Liebesverhältnissen und hatte mitunter Eroberungen gemacht, die manchem Adonis, wo nicht unmöglich, doch sehr schwer geworden wären“, schreibt Beethovens Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler. Der Mann, der 1804 an einen Maler schrieb: „Ich bitte Sie recht sehr sobald als sie mein Portrait genug gebraucht haben, mir es sodann wieder zuzustellen … – ich habe das Portrait einer fremden Dame, die dasselbe bei mir sahe, versprochen … Wer kann solchen reizenden Anforderungen widerstehen.“ Und der noch 1812 in einem Brief betont: „Ich bin ein armer österreichischer Musikant – povero Musico! (Jedoch nicht im Kastratensinn)“.
Voller solcher Widersprüche ist das Material, das sich in und über Beethovens Leben angesammelt hat. Aus allein 1.770 Briefen, seinem Tagebuch, 137 (von ursprünglich 400) Konversationsheften, mit denen der ertaubte Komponist mit seinen Besuchern kommunizierte, dazu unzähligen Berichten und Einschätzungen von Zeitgenossen kann sich jeder „seinen“ Beethoven aussuchen. Den seine Freiheit und Unabhängigkeit so sehr Liebenden – der dennoch ziemlich scharf auf Titel und Stellung eines kaiserlichen Hofkapellmeisters ist. Den cholerischen, kompromisslosen Eigenbrötler – der aber sein von Jugend an aufbrausendes Wesen als Fehler einschätzte: „sag ihr, daß ich noch zuweilen einen raptus han“, lässt er 1801 Maria Helene von Breuning mitteilen, die in Bonn nach dem Tode seiner Mutter so etwas wie seine Ersatzmutter geworden war. Der ohne hinreichende Schulbildung schon an den einfachsten Rechenaufgaben Scheiternde, der Platon und Kant liest und sein „Heiligenstädter Testament“ an Goethes Werther anlehnt.
Schon mit seinem Geburtsjahr fangen die Probleme an – 1772, nicht 1770, sei er geboren, nahm Beethoven selbst viele Jahre an. Sogar der Taufschein, den er 1810 anforderte, konnte ihn zunächst nicht von dieser Überzeugung abbringen. (Andererseits: Als er 1802 sein „Heiligenstädter Testament“ verfasste, dachte er, er sei 28!) Einen überzeugenden Grund dafür, dass Beethoven sich für jünger hielt, als er war, konnte die Wissenschaft bis heute nicht liefern. Ob es daran lag, dass der Vater seinen Sprössling gerne als „Wunderkind“ à la Mozart verkaufen wollte und deshalb als jünger ausgab?
Sein „Söhngen von 6. Jahren“ kündigt Vater Beethoven nämlich im März 1778 dem Publikum an. Da ist Beethoven offenbar bereits ein äußerst behänder Pianist. Ein Aspekt, der heute oft vergessen wird: Der berühmte Komponist begann einst als Virtuose seine Karriere: „Man kann die Virtuosengröße dieses lieben, leisegestimmten Mannes, wie ich glaube, sicher berechnen, nach dem beinahe unerschöpflichen Reichthum seiner Ideen, nach der ganz eigenen Manier des Ausdruks seines Spiels und nach der Fertigkeit, mit welcher er spielt,“ schreibt Musikerkollege Carl Ludwig Junker 1791. Und noch 1796 vermeldet das Jahrbuch der Tonkunst: „Bethofen, ein musikalisches Genie, … wird allgemein wegen seiner besonderen Geschwindigkeit und wegen den außerordentlichen Schwierigkeiten bewundert, welche er mit so vieler Leichtigkeit exequirt“.
Ein junger Virtuose ist es also, der Ende 1792 Bonn verlässt: ein elegant und modisch gekleideter Neu-Wiener. Was nicht ganz billig ist, zumal er ja mit seinen fürstlichen Gönnern mithalten will. Ein eigenes Pferd (inklusive Reitstunden) muss sein, ebenso ein eigener Diener, obwohl der Fürst Lichnowsky, bei dem Beethoven wohnt, angeordnet hat, dass der bevorzugt von seinen Dienern behandelt werden solle. Sogar Tanzstunden nimmt dieser Beethoven, die allerdings anscheinend wenig halfen, denn „nach dem Takte tanzen“ habe er nie vermocht, berichtet Ferdinand Ries. Geschrieben hat Beethoven dagegen viele Tänze – nur gespielt werden sie nicht mehr. Genausowenig wie seine anderen leichten, heiteren und gefälligen Werke.
Warum sollte dieser Mann, ein aufstrebendes Genie im Musikerhimmel Wien, keinen Erfolg bei den Frauen gehabt haben? Weil er die Neigung hatte, die Augen immer zu weit nach oben zu richten, wie z. B. das Beethoven-Haus auf seiner Kinderseite verlautbart? „Beethoven hätte gerne geheiratet und eine Familie gegründet. Aber er hat sich offenbar immer in die ‚Falschen‘ verliebt. ‚Falsch‘ waren die Frauen deshalb, weil sie meistens aus einer höheren Schicht kamen, oft adelig waren oder zumindest reich.“
Auf diverse Adlige stößt man bei den überlieferten Angeschmachteten tatsächlich. Doch so erfolglos scheint Beethoven in diesen Kreisen gar nicht gewesen zu sein. Schließlich wird ihm ja eine Tochter mit Josephine von Stackelberg (verwitwete Deym, geb. Brunswick) nachgesagt. Und dass seine Beziehung zu Giulietta Guicciardi (der Widmungsträgerin seiner Mondscheinsonate) im Jahre 1801 wirklich eine „Liebes-Fata-Morgana“ (Kropfinger) war, mag man kaum glauben. Schließlich betont Beethoven noch 20 Jahre später, sie habe ihn mehr geliebt als ihren Ehemann. Da folge ich lieber Vladimir Karbusicky, der konstatiert: „Das Verhältnis zwischen ihm und Julia war nicht so ‚platonisch‘ und auch nicht so unerfüllt wie bei Josephine fünf Jahre später.“
A propos Giulietta – ist sie Beethovens „Unsterbliche Geliebte“? Zwar hat sich die Forschung zur Zeit darauf festgelegt, die Briefe an die „Unsterbliche Geliebte“ seien 1812 geschrieben worden (dann käme sie nicht infrage), doch inhaltlich passen sie nun einmal viel besser zum dreißigjährigen Komponisten der Mondscheinsonate, der in eine 17-Jährige verliebt ist, als zu einem über 40-Jährigen, der gerade an der achten Symphonie arbeitet. In jedem Falle sind diese drei Briefe der wohl merkwürdigste Aspekt in Beethovens Biografie. Unumstritten ist an ihnen nur: Sie stammen von seiner Hand und wurden nach seinem Tode entdeckt. Ob er sie aber zusammen mit oder ohne zwei Frauenbildnisse aufbewahrte, ob letztere identifizierbar sind oder nicht, ob die Briefe überhaupt echte Briefe sind, ob sie abgeschickt wurden, aus welchem Jahr sie stammen und an wen sie gerichtet sind: Nichts ist klar in der Forschung. Noch nicht einmal die Bedeutung des Textes: Dem einen ist er „an eine Frau, die seine Liebe offensichtlich eindeutig zurückwies“ (Beethoven-Kompendium), dem anderen an eine, „die sich endlich dem Allertreuesten ihrer Freunde ganz geschenkt“ hatte (Chris Stadtlaender).
Sicher ist bei diesem Thema nur: Mit seinem Heiratswunsch scheiterte Beethoven. Aber lag das daran, dass er zu hoch hinaus wollte? War es nicht eher so, dass er bei seiner Suche nach einer intelligenten, emanzipierten und gebildeten Frau zu dieser Zeit gar nicht anders fündig werden konnte als in den Kreisen der Adligen oder Reichen? Aufgegeben hat er seine Pläne erst im reifen Alter – 1810 soll er Therese Malfatti einen Antrag gemacht haben. Da machten sich seine Freunde aufgrund der Heiratspläne schon lustig.
Klar scheint das Bild des „heroischen“ Beethoven zu sein. Der, dessen Wut über Napoleons Kaiserkrönung dazu geführt habe, dass er die Widmung der Eroica zerriss mit den Worten. „Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten“. Nicht so bekannt: Das Werk sollte Napoleon nicht nur gewidmet werden, es sollte, so teilt es Beethoven dem Verlag Breitkopf & Härtel noch 1804 mit, eigentlich den Titel Bonaparte tragen. Eine Programmsymphonie „geschrieben auf Bonaparte“, wie die erhaltene Kopistenabschrift mitteilt! Dass sich der Freiheitskämpfer Beethoven gegen den Verräter der Republik wendet – das passt so gut ins Bild. Seine eigentlichen patriotisch-politischen Beiträge zur Musik dagegen nicht so sehr – sie finden heute selten den Weg in die Konzertsäle. Ein Qualitätsproblem mit Werken wie dem Kriegslied der Österreicher oder Wellingtons Sieg? Ein veränderter Geschmack? Oder passt dieser lärmende Patriotismus nur nicht in unsere Vorstellung, wie Beethoven zu sein hat? Damals war Wellingtons Sieg jedenfalls so populär, dass das Werk in diversen Fassungen erschien: nicht nur für Orchester, sondern auch für Streichquintett, Klaviertrio und Klavier.
Äußerst problematisch ist das Verhältnis Beethovens zu seinen Mitmenschen. Der Meister hat offenbar von seiner Umwelt erwartet, ihm und seinem Genie zu dienen. Dass der Misanthrop äußerst rüde mit Angestellten umging, mag man ihm ja noch verzeihen: „Schreib-Sudler! Dummer Kerl! Korrigiren sie ihre durch Unwissenheit, übermuth, Eigendünkel u. Dummheit gemachten Fehler, dies schikt sich beßer, als mich belehren zu wollen denn das ist gerade, als wenn die Sau die Minerva lehren wollte“, schreibt er an einen unbotmäßigen Kopisten. Ebenso mag man ihm die schier unendliche Liste seiner Hausangestellten nachsehen: „Am 17. April die Küchenmagd eingetreten. Am 16. Mai dem Küchenmädchen aufgesagt. Am 19. die Küchenmagd ausgetreten. Am 30. Mai die Frau eingetreten. Am 1. Juli die Küchenmagd eingetreten. Am 28. Juli abends die Küchenmagd entflohen.“ Dies nur ein Schlaglicht aus dem Jahre 1820. Aber wie der Komponist der Ode An die Freude seine Freunde sah, ist schon unschön: Zmeskal „ist und bleibt zu schwach zur Freundschaft, ich betrachte ihn und Schuppanzigh als bloße Instrumente, worauf ich, wenn‘s mir gefällt, spiele, aber nie können sie edle Werkzeuge meiner innern und aüßern Thätigkeit, eben so wenig als wahre theilnehmer Von mir werden, ich taxire sie nur nach dem, was sie mir leisten,“ schreibt er 1801. Schwer zu glauben, dass derselbe Mann nur zwei Tage vorher er an seinen Freund Wegeler geschrieben hatte: „Das du siehst, daß es eine hübsche Lage ist, z. B. ich sehe einen Freund in Noth und mein Beutel leidet eben nicht, ihm gleich zu helfen.“
Widersprüche, wohin man schaut. Es ist, als wäre Beethovens Absicht, nichts Biografisches über sich mitzuteilen, erfolgreich gewesen: „Ich habe mir aber zum Grundsatze gemacht, nie weder etwas über mich selbst zu schreiben, noch irgend etwas zu beantworten, was über mich geschrieben worden“, schrieb er 1827 an Wegeler. Oder war das vielleicht nur in diesem Kontext gemeint gewesen? Wegeler hatte ihn schließlich aufgefordert, endlich einmal ein Gerücht richtig zu stellen, dass schon seit einigen Jahren, von Frankreich ausgehend, durch Europa geisterte: Beethoven sei ein illegitimer Sohn des preußischen Königs (wahlweise Friedrichs II. oder Friedrich Wilhelms II.).
Wie kam es zu diesem Gerücht? Und warum hat sich Beethoven geweigert, Wegelers Wunsch zu erfüllen? Den bedeutenden Beethoven-Forscher Maynard Solomon hat das zu der Frage bewogen: „Ob es wirklich nur Zufall war, dass Beethoven beschloss, seine Symphonie über das Thema der menschlichen Brüderlichkeit ausgerechnet dem Sohn jenes Mannes zuzueignen, von dem das Gerücht ging, er sei sein eigener Vater gewesen?“
Es scheint, als ob sich jeder seinen eigenen Beethoven basteln muss.