Mit der Zeitmaschine zum Baron Grimm

Der Barockfachmann Reinhard Goebel

Herr Goebel, warum spielt die französische Barockmusik in unserem Konzertleben so eine kleine Rolle?
Weil diese Musik auf ganz anderen ästhetischen Prämissen aufbaut als die eines Johann Sebastian Bach. Die Franzosen haben gottseidank ihre großen Komponisten Couperin und Marais längst wieder entdeckt. Und dass die französische Barockoper hierzulande nicht so gefeiert wird, liegt einfach an den Texten. Sie können keine Rameau-Oper mit Übertiteln auf die Bühne bringen.

Warum nicht?
Es ist so kompliziert, diese Texte zu übersetzen. Man muss schon die Sprache verstehen, um das wirklich zu genießen. Dazu kommt, dass diese Werke extrem schwer zu spielen sind. Die heutige Spieltechnik eines durchschnittlichen Orchesters reicht für Mozart und auch für Piccinni, aber nicht für einen Rameau. Für diese zerbrechliche Musik ist man viel zu grob. Französische Opernmusik ist viel schwerer zu spielen als italienische – aufgrund der vielfältigen Ornamentik und weil Sie nie etwas lang Andauerndes in den Händen halten. Es gibt ja keine Arien wie in der italienischen Oper, die Musik ist permanent im Fluss. Und wenn die Musik schon nicht in die Finger geht, dann bestimmt nicht in den Kopf.

Wie kamen Sie denn selbst dazu, sich für französische Musik zu interessieren?
Weil ich der französischen Sprache mächtig bin. Ich habe schon in der Schule die ersten Kontakte zur französischen Kultur bekommen. Das ist für mich persönlich sehr wichtig gewesen und hat es mir ermöglicht, mit französischen Ensembles zu arbeiten. Und dann bin ich auch durch das Ensemblespiel in Frankreich gelandet: Wenn man mit der Gambe anfängt, wie das in den Anfangsjahren von Musica Antiqua Köln der Fall war, kommt man automatisch zur französischen Musik, irgendwann hat man ja genug von den drei Buxtehude-Sonaten.

Sie wurden sogar ausgewählt, die Musik für den Film „Le Roi Danse“ zu spielen – war man da in Frankreich nicht eifersüchtig?
Das ist ja schon so lange her! Aber es stimmt schon, wir wurden dafür tüchtig gemobbt. Ich hatte den Regisseur Gérard Corbiau schon beim ersten Treffen gefragt: Warum wollen Sie mich? Und er sagte: Weil ich mir den jungen Ludwig XIV. nicht als eine degenerierte Madame Pompadour, sondern als einen virilen, kriegerischen Typen vorstelle. Da habe ich gesagt: Gut, dann mache ich es.

Gibt es etwas, was die französische Barockmusik auszeichnet?
Die französische Musik gibt es nicht. Wir können verschiedene Epochen abgrenzen: das 17. Jahrhundert mit der Schaffung eines eigenen autarken Geschmacks, das frühe 18. Jahrhundert mit dem Eindringen des italienischen Geschmacks, da wird manches auch sehr platt und dümmlich, und nach der Mitte des 18. Jahrhundert hatten die Franzosen keinen eigenen Geschmack mehr. Stattdessen wurde Paris so etwas wie eine internationale Drehbühne der Musik. Es war der wichtigste Platz überhaupt, die Weltstadt per se. Wie heute New York, wo sich alle die Klinke in die Hand geben, aber nichts Eigenständiges mehr herkommt. Vielleicht liegt das am Leben in Paris: Paris war immer eine Stadt des Konsums und des Genießens, weniger eine Stadt des Hervorbringens. Wenn Sie die Biographien der Musiker anschauen, stellen Sie fest, dass die alle aus Flandern kamen, aus Hainault oder aus Deutschland. Paris selbst war vielleicht zu großstädtisch, zu sehr Amüsiermeile, sodass sich auch Kinder früh ablenken konnten. Vor allem mit der Liebe, die ja immer ein großes Thema war in Paris. Die Genies kamen immer von außen: Leclair, Rameau, die Stamitze, Gossec … Das müsste ein Soziologe einmal untersuchen, warum aus Paris keine Musiker kamen. Aber die Stadt hatte ein riesiges Musikleben, als es noch keine iPods oder Radios gab.

Wie sah das Musikleben aus?
Das änderte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Unter Ludwig XIV. zum Beispiel war jeder italienische Ton in der Stadt verboten. Später hörte man an jeder Ecke Pergolesis Stabat mater. Unter Ludwig XV. gibt es noch einmal sehr viel Eigenes – generalisieren kann man da nichts. Jedenfalls ist immer eine riesige Menge guter Musiker dagewesen, sodass Frankreich viele exportieren konnte. Aber wir wissen insgesamt leider sehr wenig darüber – wir wissen, dass drei Leute an einem Pult gespielt haben, aber nicht, wie sie bezahlt wurden. Sämtliche Archive sind während der Revolution verloren gegangen. Man kann sich das heute schwer vorstellen, wie in der Revolution gehaust wurde, was da alles kaputtgeschlagen wurde, was an Papieren und Schreibtischen auf die Straße flog.

Sie selbst beschäftigen sich gerade mit dem Pariser Konzertleben im 18. Jahrhundert und präsentieren auf Ihrer neuen CD unbekannte Komponisten wie Le Duc oder Berton L’Ainé …
Als Interpret brauche ich die Herausforderung des unbekannten Werkes. Ich möchte keine klingenden Fußnötchen an hinlänglich Bekanntes fügen oder ein Sondergewürz nach dem Motto: Hier wurde die Pauke zum ersten Mal mit Holzschlegeln gespielt, oder: Erstaufführung mit Kontrafagott. Ich bin zuständig für das Zusammenfügen musikalischer Weltbilder. Dafür brauche ich die Auseinandersetzung mit dem Kleinen, die Steinchen des Mosaiks.

Sie spielen dieses Repertoire nicht mehr auf historischen, sondern mit modernen Instrumenten.
Es gibt nicht nur eine Art und Weise etwas zu machen, und ich wüsste nicht, warum ich das nicht mit modernen Instrumenten spielen soll. Das bringt den Musikern etwas und auch dem Publikum. Das Livekonzert ist immer noch ansteckender und charismatischer als die Schallplatte und die morgendliche Klassiksendung – bei der ich Möhren schälen kann oder mich der Leibesreinigung widmen. Die Barockmusik kommt ja vornehmlich zwischen sechs und neun Uhr morgens, wenn die Leute im Bad sind. Aber sie gehört auch ins Abendprogramm.

Entspricht denn der entstehende Klang Ihrer Vorstellung?
Ich habe keine vorgegebene Klangvorstellung, die ich erreichen muss. Die habe ich nie gehabt. Ich schaue, was mir das Werk erzählt, aber Spieler und Stimmen und das Werk befeuern mich viel mehr als eine eigene vorurteilige Klangvorstellung. Ich habe eine Vorstellung des Tempos, wie scharf der Rhythmus sein könnte, wie die Dynamik sein darf – und frage mich dennoch: was will ein Werk?Selbst wenn ich eine Klangvorstellung hätte, müsste ich die ja mit der Besetzung und dem Raum vereinbaren. „Klangvorstellung“ ist mir zu groß. Ich kann so etwas Komplexes nicht bearbeiten. Ich denke da eher wie Descartes: Man muss große Probleme zersägen und die entstehenden kleinen dann nacheinander lösen.

Am Schluss des CD-Programms steht Mozarts sogenannte Pariser Symphonie. Warum ist Mozart in Paris eigentlich gescheitert?
Das war genauso wie heute: Der Kunde entscheidet, ob jemand, der gehyped oder gepusht wird, auch angenommen wird. In diesem Fall war das französische Publikum nicht reif für Mozart. Aber deswegen kann man ihm keinen Vorwurf machen – sie wussten ja nicht, was aus Mozart werden sollte. Für sie war er nur einer von vielen, die vorbeikamen. Es ist ja immer ein Roulettespiel, zum richtigen Zeitpunkt zu kommen. Mozart tauchte damals gleichzeitig mit einer Menge junger Musiker auf, die Mannheim verlassen mussten, weil dort die Hofkapelle aufgelöst wurde. Außerdem glaube ich, dass sich Mozart in Paris sehr schlecht benommen hat. Er hätte ja Organist in Versailles werden können. Aber er hatte eine ziemliche Missachtung für die Franzosen. Das steht alles in seinen Briefen. Heutzutage geht so etwas unter in Telefonaten oder Emails und SMS – ich bin gespannt, ob man in zwei- oder dreihundert Jahren soviel über uns findet wie wir über das 18. Jahrhundert. Ein Drittel der erhaltenen Mozartbriefe stammt aus dieser Zeit der Parisreise. Und diese Briefe sind voller Lügen, die uns heute noch große Rätsel aufgeben: Was ist die erste Fassung der Pariser Symphonie? Wo ist die Sinfonia concertante? Wo ist all die Musik geblieben? Jedenfalls mochte man in Paris einen Le Duc einfach lieber als Mozart, weil er dem Geschmack der Zeit mehr entsprach. Er bot das Leichte, Eingängige – das Ende eines Stückes führt nahtlos in einen reizenden Abend. Mozarts Musik ist viel zu autonom, viel zu fordernd, es waren andere, die die Kunst „ihrer Zeit“ schrieben. Die hat genauso ihre Berechtigung. Wir müssten sonst auch viele Bilder in den Museen abhängen: an meine Wand lass ich nur Rembrandt.

Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten – welche Zeit würden Sie am liebsten besuchen?
Früher wäre ich gerne zu Biber nach Salzburg gereist, manchmal würde ich auch gerne in San Marco bei Monteverdi zuhören. Aber jetzt gerade wäre ich schon am liebsten in Paris.

Unter Ludwig XIV.?
Nein, ich wäre gern Kammerdiener beim Baron Melchior Grimm, damals einer der einflussreichsten Männer der Pariser Kulturszene. Da wäre ich mitten drin in im Geschehen der Zeit und könnte erfahren, in welchem Zimmer der Chevalier de Saint-George gewohnt hat.

Ein berühmter schwarzer Geigenvirtuose – was war das für ein Typ?
Schwer zu sagen – ein hervorragender Geiger, ein Gesellschaftsmensch, ein typisches Produkt seiner Zeit. Wie eine Figur aus den „Gefährlichen Liebschaften“. Das ist ja nicht nur eine Roman-Erfindung: Liebe am Nachmittag ist ein jahrhundertumfassendes französisches Thema. Da würde er perfekt hineinpassen. Er steckt ganz in seiner Zeit, hat aber wenig Ausstrahlung darüber hinaus.

Mozart erwähnt ihn mit keinem Wort in seinen Briefen, obwohl er eine Zeit lang im selben Haus wohnte – spielte der Chevalier vielleicht besser Geige?
Genau! Aber ich kann mir auch einen anderen Grund vorstellen. Wir denken uns unsere Musikheiligen ja immer als Präfigurationen und Reinkarnationen des Gutmenschen schlechthin. Dass Bach vielleicht seine Frau genötigt hat, können wir uns genauso wenig vorstellen, wie dass er seine Söhne blau geschlagen hat. Genauso denken wir, dass Mozart das summum opus an Menschlichkeit und Weltoffenheit ist. Vielleicht hatte er aber einfach eine tiefsitzende Xenophobie gegen das Schwarze? Das war ja damals gang und gäbe. Der Chevalier war zwar berühmt für seine horizontalen Künste und wurde von mancher Sängerin konsumiert. Aber als er Direktor der Oper werden sollte, haben drei Damen an Marie-Antoinette geschrieben, dass sie sich unmöglich von einem Schwarzen Direktiven geben lassen könnten, und dass sie sich dafür einsetzen solle, dass er nicht Direktor wird.

Sie haben kürzlich Ihr Ensemble Musica Antiqua Köln nach über dreißig Jahren aufgelöst – wie ist Ihr Fazit?
Schön, dass es Musica Antiqua Köln gegeben hat, und schön, dass es zu Ende ist. Der Markt hat sich gravierend geändert, und ich muss nicht als 55-jähriger Geiger Triosonaten von Legrenzi spielen. Dafür gibt es andere. Man muss sich immer auch einmal die Sinnfrage stellen: Ich habe 30 Jahre lang gearbeitet und tue dieses nach wie vor – aber nicht mehr als Geiger. In den letzten Jahren war ich als Geiger nur noch damit beschäftigt, den eigenen Verfall zu dämmen. Das kann ja keine Lebensaufgabe sein. Man muss rechtzeitig aufhören, und ich glaube, Musica Antiqua war reif. Man darf auch Platz machen für Nachkommendes: bitte nicht den Markt verstopfen!

Und warum gibt es die Website nicht mehr?
Es gibt das Ensemble nicht mehr, warum sollte es da eine Website geben? Sollen wir draufschreiben: L’ensemble est parti? Das habe ich extra so gemacht.

Ursprünglich erschienen in Partituren 12