Gregorianik

Der Dirigent Wilfried Rombach über den Gregorianischen Choral

Tübingen – alles ist hier historisch. Ob die 1477 gegründete Universität oder die astronomische Uhr am Rathaus, in dessen Schatten wir uns in einem kleinen Café zum Interview treffen. Doch für unser Thema ist das eine lächerlich kurze Vergangenheit. Denn als man im 9. Jahrhundert begann, die Musik, von der wir sprechen, aufzuzeichnen, gab es die Stadt noch nicht einmal.

Herr Rombach, warum heißt Ihre Choralschola „ensemble officium“, also „Pflicht“?
Mit dieser eigentlichen Bedeutung des Wortes hat das nichts zu tun. Wir haben einen Namen gesucht, der auf unser Repertoire hinweist. Er soll Assoziationen wachrufen zu liturgischer, geistlicher Musik. Ich glaube, dass „officium“ für gebildete Musikhörer impliziert, was wir machen: Es ist die kirchliche Bezeichnung für die Stundengebete der Mönche im Kloster, in denen der Gregorianische Choral gepflegt wird. Aber ich gebe zu, es gab auch schon Leute, die zum Konzert kamen und hinterher böse waren, weil sie das Hilliard Ensemble mit Jan Garbarek erwartet hatten.

… die eine bekannte CD mit dem Titel „officium“ gemacht haben.
Ich sehe nicht ein, dass dieser Titel jetzt reserviert sein soll. Aber gegen falsche Erwartungen kann man ohnehin nichts machen. Wenn Sie auf ein Plakat Requiem schreiben, kommen auch einmal Leute, die Mozarts Requiem erwarten, obwohl wir Tomas Luis da Victorias Requiem singen.

Sie arbeiten in Ihrem Ensemble, anders als viele Kollegen, gemischt mit Männer- und Frauenstimmen …
Ich finde das einfach interessanter und abwechslungsreicher. Wenn ich bei den Kollegen eine Stunde lang sechs Männer höre, ermüdet mich das schon. Eine gewisse Gleichförmigkeit liegt in der Natur der Gregorianik. Ich finde es ehrlich gesagt am schönsten, wenn Frauen Gregorianik singen, aber auch deren hohe Lage strengt mit der Zeit an. Durch den Wechsel von Männer- und Frauenstimmen macht man es dem Zuhörer einfacher. Allerdings singen wir im Konzert nur bei den dramatischen Höhepunkten gleichzeitig.

Hat man das früher auch so gemacht?
Es gab gemischte Klöster, in denen dann auch das Stundengebet gemeinsam gesungen wurde – das ist historisch belegt. Zwar nur für eine kurze Zeit, aber immerhin war Hildegard von Bingen einmal Vorsteherin eines gemischten Klosters. Es gab auch Klöster, die sich zum gemeinsamen Stundengebet getroffen haben, in Köln zum Beispiel. Und dass Frauen Gregorianik gesungen haben, steht ohnehin außer Frage.

Wer ist das Publikum für diese Musik?
Das frage ich mich auch manchmal! Es kommen natürlich viele Menschen, die kirchlich so sozialisiert sind, dass sie mit den Inhalten etwas anfangen können. Dann gibt es sicher viele Meditationssuchende. Und nicht zuletzt, das muss ich leider sagen, bedienen wir auch die Esoterikecke. Für mich gehört die Gregorianik da zwar nicht hin, aber ich glaube, dass einige Zuhörer auch deswegen in unsere Konzerte kommen.

Die Matthäuspassion oder das Requiem sind zwar auch nur im Konzert zu hören. Aber trotzdem: Ist es nicht ein Problem, Gregorianik im Konzert zu singen statt im Gottesdienst?
Bei der Gregorianik ist die Frage noch berechtigter. Ursprünglich ist Gregorianik ja liturgischer Vollzug ohne Zuhörer: Eine Handvoll Mönche hat gemeinsam das Stundengebet gesungen. Wenn damals ein Abt ein neues Kloster gegründet hat, hat er sieben bis zwölf Mönche losgeschickt, ein eigenes Kloster aufzubauen – mehr waren das nicht. Gregorianik ist also gesungenes Gebet. Im Konzert lehnen wir uns in Programmabfolge und Choreographie deshalb gerne ein wenig an eine Liturgie an. Wir haben keine Kutten, aber wir sitzen uns gegenüber, wie im Chorgestühl, stellen uns dann in der Mitte auf oder bleiben vor den Stühlen stehen. Ein bisschen Voyeurismus ist schon dabei im Publikum. Aber es ist eigentlich viel voyeuristischer, wenn ich in ein Kloster gehe und zuschaue, wie die Mönche ihr Gebet verrichten.

Wie findet man einen Zugang zu dieser Musik?
Der Text ist der Schlüssel zum Verständnis. Die Musik ist nur das Bindeglied zwischen den Worten. Nehmen Sie den Introitus zum Gründonnerstag, „nos autem gloriari opportet“ – es gebührt sich für uns, dass wir uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus rühmen – das ist ein hoch komplexer Text, der in einem einzigen Satz das Geheimnis dieses Festes wiedergibt. Wer da einmal die Nase hineingesteckt hat, den lässt es nicht wieder los. Die Zusammenstellung dieser Texte war ja spätestens im 7. Jahrhundert abgeschlossen, wie die Messbücher dieser Zeit belegen. Die Quellen der Musik dazu sind hingegen jüngeren Datums, in den frühen Texten waren noch keine Neumen notiert. Die Spiritualität, die dahintersteckt, und die redaktionelle Leistung sind ungleich größer als alles, was wir uns heute vorstellen können. Man hat sich unglaublich viele Gedanken gemacht, mit welchem Text man jeden Sonntag beginnen soll. Es ist schon unheimlich, wie professionell man vor über 1000 Jahren schon war. Wenn Sie sich den Hartker-Codex ansehen: Es erschließt sich so einleuchtend, was da gemeint ist.

Aber Hartker, der Mönch aus St. Gallen, hat sich für über 30 Jahre in seiner Zelle einmauern lassen, um diesen Codex und andere Bücher zu schreiben! Ist das nicht verrückt?
Na, das passt doch gut zu Tübingen! Denken Sie nur an Hölderlin, hier sind Genie und Wahnsinn so dicht beieinander – der Weg zur Nervenheilanstalt ist nah. Ich kenne selbst Leute, bei denen ich mich frage: Ist der jetzt verrückt oder genial?

Ohne Interesse an den geistlichen Texten gibt es keinen Zugang zur Gregorianik?
Doch, über die Meditation. Wenn ich mit unserer Laienschola im Gottesdienst singe, genießen es viele einfach, in die richtige Stimmung zu kommen. Ich weiß, dass es dieses Bedürfnis gibt, und das ist auch gut so, nicht zuletzt daraus gewinnen wir unsere Existenzberechtigung. Die Seele baumeln lassen kann man bei Gregorianik einfach besser als bei Neuer Musik.

Was fasziniert Sie denn an der Musik, abgesehen vom Text?
Die Kirchentonarten sind einfach ein Erlebnis! Ich finde es bedauerlich, dass es heute mit Dur und Moll nur noch zwei Tonarten gibt. In der Gregorianik hat jede Tonart ihren bestimmten Charakter, man kann einen Text nicht mit einer beliebigen Tonart kombinieren. Da kann man erstaunliche unde machen – im vierten Ton zum Beispiel, also phrygisch plagal, den wir heute als traurig kennen, steht zur Feier der Auferstehung am Ostersonntag der Introitus.

Wie alt genau ist die Musik, die Sie singen?
Die wichtigsten Quellen stammen aus dem 10. Jahrhundert. Die überzeugten Gregorianiker sagen: Jede Handschrift, die nach dem Jahr 1000 entstanden ist, ist nur noch dekadente Gregorianik.

Wenn dann in Messen der Renaissance Gregorianik auftaucht, in der Missa Papae Marcelli von Palestrina zum Beispiel, dann ist das also dekadente Gregorianik des 16. Jahrhunderts – was machen Sie damit?
Man weiß natürlich nicht genau, wie man das im 16. Jahrhundert gesungen hat, aber wahrscheinlich war es schauderhaft. Ich halte die Gregorianik dieser Zeit für künstlerisch wertlos und greife deswegen auf die frühere Gregorianik zurück – und interpretiere sie so, wie sie nach heutigen Erkenntnissen gesungen werden muss.

Was unterscheidet „normales“ Chorsingen vom Gregorianischen Choral?
Gregorianik ist einstimmig. Aber man lernt bei der Beschäftigung mit dem Gregorianischen Choral unendlich viel für das Singen im Chor. Denn es ist ganz schön schwer, wirklich einstimmig zu singen. Agogik und Vokalfärbungen muss man intensiv üben, sonst hört man ständig Brüche oder Einzelstimmen. Für uns ist das richtig anstrengend, auch wenn es hoffentlich ganz leicht und entspannt wirkt.

Wie erreicht man diese spezifische Stimmung, diesen schwebenden Klang?
Ich glaube, dass hat viel mit ganz einfachen physikalischen Gesetzen zu tun – stauen und entladen. Ich habe früher gern das Bild der Schiffsschaukel verwendet. Da entsteht Lageenergie, die eine Beschleunigung nach sich zieht, dann verlangsamt sich die Schaukel wieder. Dazu brauche ich keinen notierten Rhythmus, das ergibt sich ganz natürlich, wenn man die Neumen unter diesem Aspekt sieht. Außerdem darf man diese intime Musik dem Publikum nicht zu offensiv präsentieren. Man muss als Sänger für sich singen, nichts herausposaunen. Wahrhaftig wird die Musik nur, wenn die Sänger bei sich bleiben mit ihrer Stimme. Wir singen deshalb immer mindestens im Halbkreis, manchmal haben wir auch schon im Kreis gestanden, damit wir noch mehr das Gefühl haben, dass wir miteinander „Einklang“ werden. Genauso hat aber auch jeder Zuhörer seine eigene Sphäre, in der er das Konzert erlebt. Darin darf er nicht zu sehr gestörtwerden.

Wenn man ohne Instrumente arbeitet, kommt man da nicht schon mal einen Ton tiefer an?
Nein, bei professionellen Sängern ist das kein Problem. Aber bei einer Laienschola kann das schon passieren. Eigentlich finde ich das nicht wirklich schlimm, aber leider ist der Spannungsabfall sofort spürbar. Wenn man bei Mendelssohn einen halben Ton tiefer ankommt, bleibt die Musik trotzdem schön. Aber Gregorianik klingt sofort lasch. Meiner Laienschola sage ich immer, sie sollen singen wie eifernde, in mystische Verzückung geratene junge Mönche. Dann nimmt das Publikum das auch ab. Wenn ich einfach nur in mich hineinsinge, kommt nichts bei ihm an. Aber das ist genauso, wenn ich die Dichterliebe singe. Im wunderschönen Monat Mai ist vordergründig ein ganz einfaches Lied, das kann jeder Anfänger. Aber es so zu singen, dass das Gefühl vermittelt wird, da gehört etwas dazu, schön singen alleine reicht nicht.

Sie sind „nebenbei“ noch Kirchenmusiker und Sänger im SWR-Vokalensemble Stuttgart – leben kann man wohl nicht vom Choralsingen?
Ich mache die Musik, die mir am Herzen liegt. Aber es stimmt, wenn ich an die ganze Arbeit denke, die in den Programmen steckt, muss ich sagen: Das ist schon ein Hobby. Andererseits ist es schön, wie viele Veranstalter dann doch Interesse an einem solchen Programm haben. Es gibt ja inzwischen kaum eine Alte-Musik-Reihe, die nicht auch einen Gregorianik-Beitrag in einer dazu passenden Kirche hat.

Wenn Sie dann im Chor des SWR stehen und die Rolle wechseln vom Chorleiter zum einfachen Sänger, wie fühlt man sich da?
Ich bin ein geduldiger Chorsänger. Der Chor wird von bedeutenden Dirigenten geleitet, und ich lerne immer noch dazu. Außerdem genieße ich es einfach, professionell Musik zu machen, ohne dass ich selber vorne stehe. Das ist ja auch anstrengend, man muss alles organisieren, und alle wollen von mir wissen, wie es geht. Ich setze mich gerne auf die andere Seite und sage: Ich weiß gar nichts und mache, was der da vorne sagt.

Ursprünglich erschienen in Partituren 7.