Die Hörprobe

mit Gitti Pirner

Kennern gilt Gitti Pirner als eine der führenden Mozart-Interpretinnen. Die Kempff-Schülerin und Gewinnerin des Genfer Klavierwettbewerbs 1970, die unter anderem mit Sergiu Celibidache gearbeitet hat, war Professorin für Klavier an der Münchner Musikhochschule.

Wie hören Musiker CDs? Worauf achten sie? Und wie beurteilen sie, was sie hören? Zum Mozartjahr haben wir die Pianistin Gitti Pirner gebeten, einen Streifzug durch Mozarts Klaviermusik zu unternehmen. Sie ließ sich auf das Abenteuer ein und kommentierte CDs von Kollegen, ohne zu wissen, was sie hört.

Zunächst schimpft sie mich erst einmal aus: dass ich vom Tutzinger Bahnhof zu ihrem Haus gelaufen bin, statt anzurufen und mich abholen zu lassen! Dann hört sie sich gespannt an, was ich mitgebracht habe. Sie dabei zu erleben, ist faszinierend. Nicht nur, weil sie alle Mozartsonaten und Konzerte, die ich ihr auf CD vorspiele, im Kopf hat und sich jederzeit zu jeder beliebigen Stelle ans Klavier setzen kann. Sondern auch weil man ihren Kommentar schon sieht, bevor man ihn hört. Eine gute Interpretation zieht sie in den Bann der Partitur, sie scheint direkt von ihrem Wohnzimmer in Mozarts Klangwelt hinüberwechseln zu können. Während schlecht gespielte Musik gleichsam von ihr abprallt, obwohl sie genau verfolgt, was der Pianist da gerade falsch macht. Schade, dass ich ihre besten Kommentare nicht aufschreiben kann – weil sie sie vorspielt! Zu jeder Passage, die ihr nicht gefällt, kann sie eine schlüssigere Interpretation anbieten. Wir beginnen mit Andreas Staiers Aufnahme des Türkischen Marschs, in der er nicht nur ein Hammerklavier spielt (eigentlich nicht Gitti Pirners Welt), sondern auch äußerst frei improvisiert. Sie hört sehr lange aufmerksam zu, ehe sie etwas sagt.

Klaviersonate A-Dur KV 331, 2. und 3. Satz
Andreas Staier. Harmonia mundi HMC 901856

Das ist ein schönes Instrument, es klingt nicht so mickrig. Und der Pianist traut sich einiges, aber mit unheimlich viel Geschmack und Fantasie. Wie er sich in der Stretta auf den Marsch aus der Entführung aus dem Serail bezieht, finde ich interessant. Aber ins Programm müsste man vielleicht schreiben: dritter Satz nach Mozart. Der Türkische Marsch ist ja ein Problem, weil ständig dasselbe kommt. Da muss man auf dem Klavier versuchen, das Stück mit verschiedenen Farben zu gestalten, obwohl ich glaube, dass Mozart diese Monotonie fast wollte. Ich habe mir schon viele Gedanken über diesen Satz gemacht, ob man Varianten spielen könnte. Aber ganz ehrlich: Ich würde mich nicht trauen.

Als ich die Aufnahme das erste Mal hörte, dachte ich: So ungefähr muss Mozart das gespielt haben …
Sicher hat Mozart so gespielt – wer kann, der kann! Wenn man sich vorstellt, dass er seine erste große C-Dur-Sonate zuerst als Zugabe improvisiert hat, wie er seinem Vater schreibt. Das ist unglaublich, in dieser strengen Form! Diese C-Dur-Sonate habe ich übrigens als erste Sonate gespielt (spielt sie vor). Da war ich sieben und habe die ganze Sonate mit Text versehen. Mir hatte da noch niemand gesagt, dass Klaviersonaten von Mozart auch Opern sind, aber ich habe mich hingehockt und die ganze Sonate betextet.

Sie wollten nach dem Türkischen Marsch noch den langsamen Satz der Sonate hören – entscheidet sich eine Mozart-Interpretation am langsamen Satz?
Nein. Ich wollte nur hören, was der Pianist da macht. Der zweite Satz ist auch sehr schwierig, viele Pianisten wissen nicht, wie sie den gestalten sollen. Aber da hält er sich an die Noten. Nein, die Qualität entscheidet sich nicht am langsamen Satz. Wie bei allen Sonaten ist auch hier der erste Satz der schwierigste. Und wie meist der interessanteste. Was haben Sie denn noch alles? Her damit. Es gibt ja kaum Mozartaufnahmen zum Mozartjahr, nicht? (lacht) Das war jedenfalls ein sehr schöner Anfang.

Klaviersonate D-Dur KV 576, 1. Satz
Friedrich Gulda. Decca 476 3045

(nach 30 Sek.) Also das ist jetzt ein Mozartspiel – wenn ich das im Konzert höre, schalte ich sofort ab. Das interessiert mich nicht eine Minute. Der Pianist versucht zwar, in lyrischen Passagen ein wenig Stimmung hineinzubringen. Aber wenn das ein Schüler wäre, würde ich sofort sagen: Hör auf!

Das ist der frühe Friedrich Gulda …
Kann sein. Interessiert mich überhaupt nicht. Das ist ganz schlecht. Nur die Finger rauf und runter. Da hat er später anders gespielt … Da schimmert es jetzt so ein bisschen durch … Aber dann freut er sich wieder nur am Tempo …

Wäre er kein vielversprechender Student?
Natürlich. Ich halte ihn für einen der intelligentesten und manuell begabtesten Pianisten. Da können andere nur von träumen. Ob man mit der Interpretation einverstanden war, ist eine andere Frage. Aber er war immer geistvoll. Ich mag auch seine frühen Beethoven-Sonaten nicht. Und tonlich war er mir manchmal etwas zu nüchtern.

Fantasie d-moll KV 397
Christian Zacharias. MDG 340 0961

(hört lange aufmerksam zu) Jetzt wird es natürlich sehr persönlich. Mir geht das vollkommen gegen mein Empfinden, eine Fantasie so zu spielen. Da sind Stilelemente drin, die bei Mozart nichts zu suchen haben. Die sind mir zu – romantisch kann ich nicht sagen …

Ein Mozart wie von Carl Philipp Emanuel Bach?
Genau! Dieses Rubato – man weiß schon, was er sagen will. Aber er sagt es mit den falschen Mitteln. Wenn er auf einem Hammerklavier spielen würde, müsste er vielleicht so mit der Agogik arbeiten. Obwohl: Das hat der erste Pianist nicht gemacht. Das hat mir sehr imponiert, er war in seiner ganzen Improvisation unheimlich nah bei Mozart. Während das hier mehr bei sich selbst ist. Ich denke, dieser Pianist spielt sich selbst. Die Idee ist schon richtig, er will diese Trauer ausdrücken. Am Anfang weiß er nicht, was er machen soll (setzt sich ans Klavier und demonstriert). So kann man es bei Brahms oder Rachmaninow machen, aber bei Mozart muss das einen Ernst haben, so stur sein. Diese Aufnahme ist für mich, da bin ich mal sehr scharf: hysterisch. Aber auf diese Weise kapiert es das Publikum natürlich besser. Da können die Leute dann sagen: Was hat der für ein Sentiment drin! Meine Studenten würde ich jedenfalls nicht so spielen lassen. Man kann nicht in jedem Takt das Tempo ändern. Deshalb hat mir die erste Aufnahme so sehr imponiert: Man hat das Gefühl, der Pianist ist völlig frei, er improvisiert, bleibt aber genau im Metrum.

Klaviersonate Es-Dur KV 282, 1. und 2. Satz
Atsuko Seki. Divox CDX 25248-2

Das ist das Kontrastprogramm, nicht wahr? Bis jetzt gefällt es mir sehr gut: sehr einfach, sehr natürlich. … Der Triller ist nicht schön. … Das ist sehr schwer, hier den Bogen zu halten: die Arie der Gräfin aus dem Figaro – Er hat mich verlassen – … die Phrasierung links stimmt nicht …

Ist das nicht zuviel Pedal?
In der Aufnahme scheint auch viel Hall drauf zu sein. Das ist alles so ein bisschen unter einer Glocke. Sie haben schon Recht: In der linken Hand bindet sie den Bass an und hilft sich ein bisschen mit dem Pedal über die Bögen. Aber trotzdem gefällt es mir. Sie macht nichts, was nicht in den Noten steht. Auch wenn es klanglich ein bisschen einfarbig ist.

Ist das das Geheimnis der Mozartinterpretation: nichts machen?
Nein: nichts hineindenken, was nicht drinsteht! Weil so wenig in der Partitur steht, läuft man Gefahr, manches hineinzudenken. Ich glaube, das Geheimnis ist, dass man das Wenige, was dasteht, zum Sprechen, zum Singen, zum Klingen bringt. Die Klaviersonaten sind wie Opern, das ist das Geheimnis. Aber ich bin auch nicht in telefonischem Kontakt mit Mozart, obwohl es lustig wäre, was er wohl sagen würde zu diesem Jahr.

Haben Sie schon etwas Gutes gehört im Mozartjahr?
Ich habe einen sehr schönen Don Giovanni in Zürich gehört. Da war ich erstaunt über die Besetzung der Elvira mit Malin Hartelius, die ja sonst eher die Sophie singt oder die Pamina. Und ich dachte: die als Elvira? So eine dramatische Angelegenheit? Und dann kamen ihre Arien, und ich habe gedacht: So gehört das eigentlich. Das war eine unheimliche Überraschung für mich.

Klaviersonate a-moll KV 310, 1. und 2. Satz
Dinu Lipatti. EMI 5 62819-2

Sehr schön! Es liegt wahrscheinlich an der Aufnahme, dass die dynamischen Unterschiede nicht so groß sind. Ein tolles mysterioso. Das spricht, das ist wahnsinnig persönlich– schön! Das ist nicht Clara Haskill, oder?

Es ist Dinu Lipatti
Toll! Aber so weit war ich nicht weg. Darf ich in den langsamen Satz hineinhören? Diese Aufnahme kenne ich nicht. Dinu Lipatti war übrigens ein Kollege und Freund meines Genfer Lehrers Louis Hiltbrand. Die waren gleich alt. Wenn Lipatti doch älter geworden wäre! Er stand noch am Anfang seiner musikalischen Entwicklung, sagte mein Lehrer immer. Lipattis Spiel hat eine Wärme, da erübrigen sich alle Kommentare – das geht Ihnen doch auch so. Da ist der Unterschied zur zweiten Aufnahme eklatant: Lipatti macht kein Rubato, und trotzdem hat man das Gefühl, er spielt völlig frei. Das ist die Kunst. Wenn Sie auf die linke Hand achten: wie ein Metronom. Jetzt zieht er eine Idee an – das ist eine sauschwere Stelle, der kann trillern. Gerade in diesem Mittelteil ist es die große Kunst, ihn wirklich dramatisch zu spielen und trotzdem im Rahmen zu bleiben.

Klaviersonate C-Dur KV 330, 1. und 2. Satz
Glenn Gould. Price-Less D15119

Na, das ist aber mal introvertiert! Ich bin böse, gell? Also, ich habe natürlich einen Verdacht, wer das sein könnte. Und warum soll man es nicht so spielen? Aber für mich ist das ein bisschen zu niedlich, zu puppenhaft. Ich glaube nicht, dass das Mozart gerecht wird. Aber er zieht es konsequent durch. Wahrscheinlich war Mozart dem Glenn Gould wesensmäßig völlig fremd. Vielleicht stand Gould da sein Intellekt im Wege. Ich glaube, dass er sich sehr schwer getan hat, spontan an etwas heranzugehen. (Der 2. Satz beginnt.) Das finde ich übrigens sehr schön. Aber er ist jetzt im zweiten Satz, und den ersten hat er auch schon zum langsamen gemacht. Hier passt es jetzt, das ist perfekt.

Sobald eine kontrapunktische Struktur auftaucht …
… ist er in seinem Element. Wobei ich die Melodie immer noch wichtiger finde als so eine Altstimme oder einen Tenor. Aber es gibt eben Dinge, die sind unabhängig vom Geschmack: Wenn über dem ersten Satz einer Sonate Allegro con spirito steht, dann ist es kein Andante. Aber Gould war das wurscht. Ich finde, er reduziert Mozart. Aber es ist jetzt nicht so abseits, dass man sagen könnte: So geht es nicht. Das geht mir bei vielen von Goulds Beethoven-Interpretationen so, dass ich denke: Das geht einfach nicht.

Aber er packt sie?
Ich langweile mich ein bisschen, aber trotzdem höre ich ihm zu. Er macht keine extremen sentimentalen Sachen und hat eine Linie, die er konsequent geht. Ich halte sie nicht für die richtige Linie, aber er verfolgt sie, und deswegen hört man ihm zu. Und in diesem langsamen Satz ist er absolut dem Notentext entsprechend.

Klavierkonzert d-moll KV 466, 1. Satz
Daniel Barenboim, Berliner Philharmoniker. Warner 256461919-2

Das ist ein schönes Konzert! Sie haben lauter Sachen mitgebracht, die mir gefallen. Vor allem der Anfang, das Thema war sehr schön. Das Orchester ist nicht besonders. Aber das ist ein gutes Tempo. (einige Zeit später) Das Thema hat mir am besten gefallen, jetzt ist es nicht mehr so gut. Das geht ein bisschen in eine Geläufigkeitsübung über.

Das sind Daniel Barenboim und die Berliner Philharmoniker.
Ach ja? Na, dann hat er nicht geprobt. Er ist für mich eine der größten musikalischen Potenzen, die es gibt. Das hat man immer gemerkt, wenn er mit Celibidache gespielt hat: Die erste Probe war mäßig und das Konzert grandios. Aber er macht einfach zu viel, und so begabt ist er auch nicht, dass er nicht üben müsste. Aber wie er diesen Anfang spielt, das ist einfach toll.

Klavierkonzert c-moll KV 491, 1. Satz
Martin Stadtfeld, NDR-Sinfonieorchester, Bruno Weil. Sony 82876 72298-2

(Dazu sagt Gitti Pirner zunächst einmal nichts. Aber man kann sehen, dass es ihr nicht gefällt, so dass ich frage:) Wie viel Takte brauchen Sie, um zu hören, das taugt nichts?
Nicht lange! (lacht) In Aufnahmeprüfungen weiß man eigentlich nach zwei Minuten Bescheid.

Was fehlt denn hier?
Ich glaube, das ist mit einer ganz großen Naivität, mit Unbefangenheit und Unverständnis gespielt. Obwohl er nichts direkt Falsches macht – er spielt laut und leise … Die lassen sich nicht berühren von der Musik und berühren so auch nicht. Wenn einen das Thema schon nicht berührt, ist es wirklich schade! Die CD habe ich übrigens selbst, aber auf Bitten meines Mannes habe ich sie bald abgedreht. Er hat gesagt: Es reicht schon, dass du sie gekauft hast, musst du sie auch noch anhören? Mein Mann ist noch viel kritischer als ich. Mit dem hätten Sie hier sitzen sollen.

Ist er Ihr schärfster Kritiker?
Ja! Brutal. Er sagt nichts unmittelbar nach dem Konzert. Meistens im Schlafzimmer kommt dann die Kritik, aber sehr vornehm. Es ist gut, wenn man so jemanden hat. Er hat natürlich nicht immer Recht – ich wehre mich schon. Haben Sie noch etwas für mich?

(Ja, einen habe ich noch: Nikolai Demidenko – auch der schafft es schon mit dem ersten Ton, sie zu packen …)

Adagio h-moll KV 540
Nikolai Demidenko. AGPL 1-008
(Der zweite Ton ist noch nicht angeschlagen, da ruft sie:) Wie schön, das h-moll-Adagio! (und hört dann ohne Kommentar aufmerksam das ganze Stück.) Was soll ich da sagen? Ich würde natürlich manches anders spielen. Mich stört zum Beispiel diese plötzliche kurze Begleitung in der linken Hand, die passt nicht zu dieser himmlischen innigen Melodie. Aber das sind Winzigkeiten. Insgesamt ist das Stück für mich absolut getroffen!

Aus Partituren 6 (2006)

Die wunderbare Aufnahme sämtlicher Klaviersonaten mit Gitti Pirner gibt’s bei www.farao-classics.de