Hörprobe mit Andreas Staier

Wie hören Musiker CDs? Worauf achten sie? Und wie beurteilen sie, was sie hören? Andreas Staier ließ sich auf das Abenteuer ein und kommentierte CDs von Kollegen, ohne zu wissen, was er hört.

Mit Andreas Staier CDs zu hören ist gefährlich. Da spiele ich ihm den schönsten Track auf einer meiner Lieblings-CDs vor – und er hört gleich eine Schwäche in der Interpretation. Und das Schlimme ist: Seit er es mir erklärt hat, höre ich sie auch. Aber andererseits: Dafür gibt es „Blind gehört“. Staier ist ein idealer Partner dafür – sekundenschnell ist er „in“ einem Stück und kommentiert in einer analytischen Detailliertheit, die man eher von akademischen Aufsätzen gewohnt ist. Ein Musiker, der nicht nur exzellent spielen, sondern auch erklären kann, warum er etwas so und nicht anders spielt.

Johann Sebastian Bach: Jesu bleibet meine Freude (Choralbearbeitung)
Dinu Lipatti 1950; EMI 5 66988-2

Dinu Lipatti war ein phänomenaler Pianist mit einem wahnsinnig tollen Klang. Manche seiner Bachaufnahmen finde ich wirklich sehr schön. Die atmen nicht den Geist der „neuen Sachlichkeit“ wie viele Aufnahmen dieser Zeit. Da ziehe ich eine schöne spätromantische Interpretation allemal vor. Bei diesem Choral würde ich persönlich die Melodie nicht ganz so herausheben, das wird sonst leicht Musik für Blöde. Ich erschrecke mich immer, wenn der erste Choralton kommt – der ist so trompetenlaut in diesem idyllischen Stück. Aber es ist großartig gespielt, die Stimmen im Hintergrund so gleichmäßig zu gestalten, ist rasend schwer. Man ist ja darauf trainiert, die Oberstimme hervorzuheben, aber hier ist der Choral oft in der Mittelstimme, sodass man mit dem ersten und fünften Finger leise, mit dem dritten und vierten laut spielt. Das muss man erst einmal hinbekommen. Es ist jedenfalls schwerer als die Chromatische Fantasie und Fuge.

Könnte man Lipattis Interpretation „verbessern“ durch die Erfahrungen mit der historischen Aufführungspraxis, wie wir sie heute haben?
Diese Frage kann man nicht beantworten. Wenn sich Lipatti dafür interessiert hätte oder eine Generation später geboren wäre, hätte er sowieso ganz anders gespielt. Aber Horowitz hatte auch keine Ahnung von historischer Aufführungspraxis, und seine Scarlatti-Sonaten sind trotzdem besser als fast alle anderen. Wie Lipatti spielt, ist in sich nicht zu verbessern. Ich finde vor allem das Tempo völlig in Ordnung. Das ist häufig das Problem, Pianisten einer bestimmten Generation haben sich in den Tempi oft vergriffen – Lipatti nie. Tempi sind vielleicht das Allerwichtigste, man kann ein Stück durch nichts mehr verunstalten als durchs Tempo.

Johann Sebastian Bach: Wachet auf, ruft uns die Stimme BWV 645
(Bearbeitung für Klavier von Juan José Chuquisengo)
Juan José Chuquisengo 2004; Sony SK 93829

(nach wenigen Takten) Das ist eine Art von Musik-Machen, die die Rhythmen so auffasst, als ob es ein Notendiktat wäre. … Das können wir ausstellen! Das ist so eine gestische Melodie mit den Pausen und den ganzen Vorhalten – dieses Zögern, diese Augenblicke, in denen alles ratlos stehen bleibt, um sich dann wieder in Bewegung zu lösen. Hier höre ich nur Achtel und Sechzehntel, keine Gesten. Es gibt ja hier, wie so oft bei Bach, zwei Stimmen in einer, und das kommt überhaupt nicht heraus. Das Zögerliche dieses Stücks, die Vorhalte, die eher nicht schmerzlich sind, sondern etwas Süßes haben. Klanglich ist das sehr kultiviert, aber rhythmisch finde ich es flach und unprofiliert. Über die Verzierungen reden wir jetzt gar nicht. Das Wesen einer Verzierung ist ja, dass sie immer einen Hauch von „es könnte auch anders sein“ hat – hier hört man dagegen, wie gut das alles einstudiert ist. Das ist mit Sicherheit ein guter Pianist, wie er das klanglich abstuft, aber die Komponente des Schwungs, des Vorangehens und wieder Loslassens, das fehlt. Ich rede nicht von Rubato, nur davon, über einem ganz gleichmäßigen Bass eine Melodie zu spielen, die lebt.

Dann kommt es vor allem auf den richtigen Rhythmus an?
Rhythmus kann man eben nur schlecht notieren. Bei Streichern fragt man sich sogar, ob man überhaupt Tonhöhen notieren kann, weil auch die Intonation dort einen expressiven Gehalt hat – nicht jeder Leitton ist gleich hoch. Beim Klavier entspricht jeder Ton genau einer Taste. Aber ein Sechzehntel ist nicht immer genau halb so lang wie ein Achtel. In dieser Aufnahme ist es das. Das ist das Problem, wenn man beim Klavierspielen gleich mit dem Notenlesen anfängt. Wenn man dagegen Zigeunerkapellen sieht, die die virtuosesten Sachen spielen, obwohl sie keine Noten lesen können: Die haben ein Gespür für Rhythmus, da erbleicht man vor Neid. Rhythmus ist immer ein gestisches Element, nicht nur ein Raster von doppelt oder halb so schnell.

Sind Sie selbst mit der Zeit freier geworden?
Ich hoffe es. Und wenn ich einmal alte Aufnahmen von mir anhöre, empfinde ich es auch so. Aber es geht erst einmal um eine Freiheit auf mikroskopischer Ebene – vier Sechzehntel-Noten, wo kommen die her, wo gehen die hin, wo hängen die dran? Es geht darum, frei in den Unterteilungen zu sein. Man muss versuchen, hinter die rhythmische Notation auf gedachte Gesten zu schauen und den Rhythmus auf dieser Ebene zu verstehen. Verstehen, warum es dieser Rhythmus ist und nicht ein anderer. Nicht Dinge hinzufügen, die nicht in den Noten stehen. Sondern mit dem Notentext, der dasteht, umgehen.

Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert BWV 971
Murray Perahia 2003; Sony SK 87326

Zum Italienischen Konzert etwas zu sagen, fällt mir sehr schwer. Das ist so bekannt – das müsste man vielleicht wirklich mal 50 Jahre lang nicht spielen. Wenn ich Bach auf dem Klavier spielen würde, würde ich mir das nicht aussuchen. Ich würde um alle Stücke einen Bogen machen, die mit zwei Manualen rechnen, weil es etwas ganz anderes ist, auf dem Klavier laut und leise zu spielen, als auf dem Cembalo das Manual zu wechseln. Die Manuale haben eine formale Bedeutung, nicht nur eine klangliche. Beim Klavier kommt man da immer auf Abwege, weil man Lösungen findet, die das Werk nicht sucht. Und gleichzeitig verliert man Dinge, die für das Stück konstitutiv sind. Ich finde das schön gespielt, aber ich würde den Tutti-Soli-Gegensatz deutlicher machen, auch in der Weise, dass das Tutti weniger individualistisch gespielt wird und das Solo dafür mehr. Der Witz am zweiten Teil der Clavierübung ist ja, dass Bach die Orchestergattungen der beiden wichtigsten Musiknationen, die französische Orchestersuite und das italienische Violinkonzert, auf ein Tasteninstrument überträgt. Das hört man in dieser Aufnahme nicht genug. Die Frage ist, inwieweit man dem einzelnen Stück die Einordnung in diesen riesigen Gesamtzusammenhang bei Bach anhören soll. Ich denke, dass man es sollte. Die Clavierübung in ihren vier Teilen ist ein riesiges enzyklopädisches Unterfangen, bestimmte Dinge letztgültig und in allen Facetten abzuhandeln. Das bestimmt zumindest meine Sicht auf die einzelnen Werke.

Johann Sebastian Bach: Sonata BWV 964
Andreas Staier 1998; Teldec Classics 3984-21461-2

Woran erkennt man sich selbst beim Spielen?
Ich muss gestehen, dass ich als Erstes den Cembaloklang erkannt habe, obwohl es nicht mein Instrument ist. Dieses Instrument hat einfach einen wunderbaren Klang. Aber das ist ganz schwer zu sagen, woran man sich erkennt – und vor allem ist es nicht immer erfreulich, sich zu erkennen. Diese Aufnahme ist aber ganz gut, finde ich.

Was würden Sie heute anders machen?
Bei diesem Satz nicht viel. Das ist einer dieser Sätze, die man gar nicht interpretieren kann. Der ist so, wie er ist. Manche Stücke erfordern überhaupt keine Interpretation, und es ist das Schlimmste, was man Musik antun kann, dass man eine Interpretation wie Ketchup drüberschüttet. Dann wird es verlogen. Es interessiert doch auch niemanden, was ich gerade mit so einem Werk erlebe. Das ist der falsche Standpunkt. Bei manchen Allegri, auch in der Klassik, spielt man einfach nur mit einer bestimmten rhythmischen Haltung.

Kann dann jeder Pianist, der es manuell beherrscht, das Stück gut spielen?
Na gut, man muss grundsätzlich eine bestimmte Haltung zum Rhythmus haben, die man heute in der Ausbildung eher ab- als anerzogen bekommt. Da habe ich viel probiert undnachgedacht und gehört – das Rüstzeug braucht man natürlich. Das ist auch eine Technik: die Technik der Aussprache. Aber das ist ja noch nicht Interpretation. Man liest ein Buch, und wenn man die Sprache kennt, weiß man, wie die gedruckten Wörter ausgesprochen werden. Das steht vor der Interpretation. Man muss als Erstes fragen: Was steht denn da? Und nicht: Wie wirkt das auf mich? In den Noten findet man ein Perpetuum mobile mit einigen Stolpersteinen, die das Ganze noch ein wenig bizarrer machen; einige 32tel, die dem Ganzen etwas Diabolisches, Hakeliges geben. Es fließt nicht einfach nur durch. Aber man muss das nicht interpretieren. Das ist genau wie beim ersten Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier – da gibt es doch auch nichts zu interpretieren.

Tatsächlich? Ich habe noch nie eine wirklich befriedigende Version des Stücks gehört.
Wenn es daneben geht, dann vor allem deswegen, weil die Leute zu viel interpretieren. Weil sie denken: Das ist das erste Präludium einer tollen, wichtigen monumentalen Sammlung – in Wirklichkeit ist es ein Warming-up, ein ziemlich intelligentes. Schon wie da die Fuge angedeutet ist in den Umrissen des Themas. Aber sonst gibt es nichts außer Arpeggien. Wenn man da mehr macht, wird es sehr schnell zu einer Interpretation mit erhobenem Zeigefinger. Ich glaube, man darf da keinen Ehrgeiz haben. Nur das kommen lassen, was kommt. Bloß nicht mit einer Fülle von guten Absichten an dieses Stück gehen.

Johann Sebastian Bach: Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903
Edwin Fischer 1931; Klavier-Kaiser Band 2. Süddeutsche Zeitung

Fischer hat einen bestimmten Klang, den man schnell heraushört. Er kann auf dem Klavier ein Gewebe spielen, das schillert, in dem mal dieses, mal jenes herauskommt, ohne dass es Ecken gibt. Das macht er besser als irgendjemand sonst. In dieser Phantasie hört man das natürlich gerade nicht. Mal sehen, was er jetzt macht. … Dass die Arpeggio-Stelle so lyrisch losgeht, ist mit Sicherheit nicht gemeint, aber er macht es so schön, dass man nichts dagegen sagen kann. Gemeint sind sicherlich große, rauschende Klänge und nicht so etwas Mysteriöses. Aber wenn das jemand so atemberaubend schön macht … Hier auch wieder – Klasse! So habe ich das noch nie gehört, Choral und Arpeggiando gleichzeitig. Da merkt man, wie gut die Musik ist. Und hier spielt jemand, der so bei der Musik ist – trotz allem hat man nie das Gefühl, dass er der Musik etwas überstülpt. Ich finde das glaubwürdig, obwohl ich es nie so spielen würde. Jeder Triller von der Hauptnote, x Noten dazugedacht – das ist alles falsch. Aber wen stört’s?

Domenico Scarlatti – Sonate K 248; Sonate K 206
Teodoro Anzellotti (Akkordeon) 2001; Winter & Winter 910 062-2

(nach langem Zuhören) Das ist eigentlich ganz schön. Allerdings ist die Ansprache des Instruments bei Allegro-Stücken natürlich langsamer als auf jedem Tasteninstrument. Können wir etwas Langsames hören? … Vielleicht ist Scarlatti ja nicht ideal für Transkriptionen auf dieses Instrument, weil er so oft etwas von Gitarrenmusik hat, und die ist in der Klangentwicklung das exakte Gegenteil zum Akkordeon. Aber es hat seinen eigenen Charme.

Welches Instrument bevorzugen Sie denn für Scarlatti?
Das ist keine leichte Entscheidung. Scarlatti steht schon in der Mitte zwischen Klavier und Cembalo. Die temperamentvollen Stücke mit den Acciaccaturen wirken sicher sehr viel besser auf dem Cembalo, einige der gesanglichen sind sehr schön auf dem Klavier.

Domenico Scarlatti: Sonate K 384
Christian Zacharias 2001; MDG 940 1142-6

Die Sonate kenne ich gar nicht. … Ich versuche gerade mir vorzustellen, was die wohl für eine Vortragsbezeichnung und Taktart hat. Nicht sagen! Es kommt mir so vor, als ob das eigentlich ein langsames alla breve wäre, was hier in einem Vierer gespielt wird. Soll ich mal nachschauen? (Staier geht in den Keller und kommt mit der Notenausgabe wieder.)

Können Sie mir vielleicht verraten, woher Sie wissen, dass ein Stück, das Sie gar nicht kennen, alla breve notiert ist?
Weil der harmonische Rhythmus nicht für einen Vierertakt spricht. Alla breve sagt ja vor allem etwas über die Ereignisdichte aus. Es ist nicht immer doppelt so schnell. Hier ist das Problem, dass der Pianist für alles ein bisschen zu viel Platz hat, eine zu kleine Linie, weil er in vier denkt, nicht in zwei. Man könnte auch in diesem Tempo alla breve spielen, obwohl das sehr schwer und heikel wäre. Aber er tut es nicht. Jetzt zum Beispiel: Da muss er nachdrücken, weil er zu viel Zeit hat. So einfach das mit den Tempi in der ersten oder zweiten Klavierstunde zu erklären ist, so schwierig ist es umzusetzen. Und die Fähigkeit, ein alla breve richtig zu machen, ist fast verloren gegangen. Man sieht das oft in Konzerten: Die Dirigenten dirigieren alla breve grundsätzlich in vier und manche Vierer dafür alla breve. Dann passiert das, was man hier hört: Es schwingt auf der falschen Spur. Es ist klanglich sehr schön, dieses Verhangene, etwas Melancholische. Aber es wird gleichzeitig zu schnell und zu langsam. Das Metrum ist zu schnell und das absolute Tempo zu langsam.

Domenico Scarlatti: Sonate K 213
Linda Nicholson 2004; Capriccio 67122

Das ist sehr schön! Auch ein sehr schönes, anrührendes Instrument. Ich kenne die Sonate in- und auswendig und würde manches anders machen. Ich würde es am Schluss ein bisschen beiläufiger raffen, etwas schneller machen, ohne dass es nach accelerando klingt, es jedenfalls nicht mehr so wichtig nehmen. Aber das ist egal. Wie sie in die Wiederholung gegangen ist, und es wird noch einsamer da oben – toll. Und wenn es sich hier plötzlich nach Dur wendet – ist das nicht ein wundervoller Moment? Es gibt keine schönere Musik für Tasteninstrumente als Scarlatti!

Ursprünglich erschienen in Partituren 8 (2007)